Heiko Schütz: The long now - das lange Jetzt

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Hallo Stefan,

schoen, dass hier im Forum immer wieder auch solche Themen zum Nachdenken anregen. Und weil ich seit letzter Woche viel mehr Zeit habe (mein Fernseher ist kaputt gegangen, und ich werde ihn vorerst nicht reparieren lassen bzw. neu kaufen) und das Thema mich generell interessiert, nun ein paar meiner Gedanken (und auch ein paar geklaute :-).

In diesem Fall geht es um etwas, das in unserer schnellebigen Zeit voellig abhanden gekommen zu sein scheint - das Bewusstsein fuer grosse Zeitraeume, eine wichtige Voraussetzung, um so etwas wie Verantwortung fuer spaetere Generationen ueberhaupt haben zu koennen.

Wie schon einige geschrieben haben, glaube auch ich, dass der Mensch und sein Denken nicht fuer lange Zeitraeume geschaffen sind. Es faellt uns schon schwer genug, kurze Zeitraeume zu begreifen - "Wie viele Augenblicke hat eine Viertelstunde?" (Fussnote 1) - wer kann da erahnen, was in 10, 100, 1000 oder noch mehr Jahren sein wird oder wie die Welt vor dieser Anzahl von Jahren ausgesehen hat (10 Jahre kriegt man mit etwas Nachdenken vielleicht noch hin, aber dann?).

Und was die Verantwortung fuer kommende Generationen betrifft, habe ich mir im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion um den Ausstieg aus der Kernenergie-Nutzung mal wieder ein etwas aelteres Buch (2) rausgesucht, aus dem ich folgendes zitieren moechte: "Eine Schluesselrolle in der Entsorgungsproblematik nimmt der Zeithorizont ein. ... Die Kerntechnik ist keine 50 Jahre alt. Das Christentum besteht 2000 Jahre, aus der Zeit davor liegen fuer das Gebiet der Bundesrepublik ... keine schriftlichen Ueberlieferungen ueber menschliche Besiedelung vor. Die letzte Eiszeit ging vor 10.000 Jahren zu Ende. In dem Zeitraum von vor 80.000 bis 40.000 Jahren lebte in Mitteleuropa eine fruehe Entwicklungsstufe des Menschen - der Neandertaler. Auf der anderen Seite betragen die Halbwertszeiten von Plutonium-239 24.000 Jahre, von Neptunium-237 2,1 Millionen Jahre ..."

Das nur zur Verdeutlichung von Zeitraeumen, auf die der Jetzt-Mensch Einfluss hat - mindestens Zehntausende von Jahren. Kann ueber so lange Zeitraeume eine funktionierende Kommunikation gesichert werden? Die aeltesten Schriftzeichen - aegyptische Hieroglyphen - sind reichlich 5.000 Jahre alt, und auch die konnte die Menschheit fast eineinhalb Jahrtausende lang nicht entziffern (3). Hoffentlich koennen die Erbauer der "Long Now"-Uhr sicherstellen, dass sich Menschen noch so lange erinnern, was das seltsame Ding ueberhaupt darstellen soll, bis es das naechste Mal schlaegt.

Was auch immer man von dem Uhrenprojekt halten mag, <schnipp/>

Ein bisschen steckt da sicher die Idee hinter, sich selbst ein Denkmal zu setzen und auch den Hype um das Jahr 2000 zu nutzen: der erste Prototyp funktionierte am 31.12.1999, gerade rechtzeitig, um "per Kuckuck" das neue Jahrtausend zu begruessen, naja ... (auch wenn es das Projekt seit 1996 gibt; aber die ersten Planungen fuer spektakulaere Silversterparties 1999/2000 haben bestimmt nicht spaeter begonnen :-)

* Ist so ein Projekt wie "the long now foundation" und die Langzeituhr noetig, um unser Bewusstsein fuer lange Zeitraeume zu schaerfen? Kann man das auch mit anderen Mitteln trainieren?

Es schadet sicher nicht :-). Ansonsten meine auch ich, dass es sich durchaus lohnt, immer mal wieder in die Natur zu gehen und sich dort umzusehen. Z.B. sind vom 9.-13.08. mal wieder Sternschnuppen zu beobachten (die Perseiden) - eine prima Gelegenheit, mal ueber die Groesse bzw. Bedeutung des Menschen, Ehrfurcht, Zeit und was auch immer nachzudenken (und sich zu ueberlegen, was man sich wuenschen soll, wenn wirklich eine Sternschnuppe vorbeizieht).

* Was ist ueberhaupt ein "langer Zeitraum"? Welche Zeitraeume sind fuer "verantwortungsvolles Denken gegenueber spaeteren Generationen" eigentlich massgeblich?

"Lange" ist subjektiv und von der jeweiligen Situation abhaengig - mit der Hand auf der heissen Herdplatte sind schon Sekundenbruchteile zu lange. Und fuer Verantwortung der Zunkunft gegenueber: siehe oben.

* Kann man "Bewusstsein fuer lange Zeitraeume" in die Alltagspraxis umsetzen? (Langsamer sprechen, mehr Zeit zum Antworten lassen, bei Terminnennungen von Auftraggebern milde laecheln ;-)?

Bewusstsein fuer Zeit, die ueber den Augenblick hinausgeht, muss jeder fuer sich selbst entwickeln. Daraus ergeben sich dann immer die Sinnfragen, ueber die man hervorragend mit guten Freunden an langen Abenden philosophieren (oder rumspinnen ;-) kann. Was ist mir wichtig genug, andere Dinge dafuer nicht zu tun, also wo setzte ich Prioritaeten; was will ich an die Nachwelt weitergeben; was ist der Sinn des Lebens usw.? Daraus und aus vielen aehnlich gelagerten Fragen ergibt sich dann auch eine Alltagshaltung, z.B. zum Verhaeltnis Arbeit/Freizeit oder Umgang mit anderen Menschen.

* Wenn ihr versuchen wolltet, ein Webprojekt aufzuziehen, dass sich mit dieser Thematik befasst und etwas zum Thema "Langzeitdenken" beitragen wolltet - wie wuerdet ihr das angehen? Anders ausgedrueckt: habt ihr euch auch schon mal um "langfristige Datenhaltung" und dergleichen Gedanken gemacht?

Zum Thema "langfristige Datenhaltung" faellt mir eigentlich nur folgender Link ein: Die Zeit Nr. 47/1999, "Das grosse Datensterben", http://www.archiv.zeit.de/cgi-bin/bda/vtrserve.pl/zeit-archiv/daten/pages/199947.information1a_.html (4)

Also - wer mag, kann seinen Gedanken dazu hier freien Lauf lassen ;-)

Hab ich, und vielen Dank fuer diese Anregung.

Viele Gruesse,
Heiko

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Fussnoten:

  1. Aus "Zeit - Wie man ein verlorenes Gut zurueckgewinnt" von Bodil Joensson; erschienen 2000 im Verlag Kiepenheuer & Witsch, DM 29,90. Ein schoenes Buch ueber den persoenlichen Umgang mit Zeit - aber _nicht_ Zeitmanagement im herkoemmlichen Sinne. Ich lese es gerade (hab's also noch nicht durch) und kann es auf jeden Fall weiterempfehlen. Wenn man auch nicht alle Gedanken der Autorin teilen mag, so regt das Buch doch zum Nachdenken an, und das ist schon viel wert. Ich denke, es ist auch ein schoenes Geschenk (und kostet nur so viel wie eine CD).

  2. Aus Fischer u.a., "Der Atommuell-Report", Knaur, 1991, Seite 14f

  3. Geo-Epoche Nr. 3, "Das Reich der Pharaonen", Gruner + Jahr, 2000, S. 86ff und 120ff

  4. In eine aehnliche Richtung geht auch: Die Zeit Nr. 10/1999, "Heroische Spurensicherung", http://www.archiv.zeit.de/cgi-bin/bda/vtrserve.pl/zeit-archiv/daten/pages/199910.biographien_.html

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The long now - das lange Jetzt

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