Hallo Christoph,
ueber den etwas ungluecklichen und nicht der political correctness entsprechenden Gebrauch des Wortes 'Legastheniker' ist ja nun viel diskutiert worden in diesem Thread. Vielleicht haettest du einfach gleich zugeben sollen, dass der Gebrauch ungluecklich war, dann waere moeglicherweise mehr zum eigentlichen Thema diskutiert worden.
Ein Thema deines Postings ist der "rapide Verfall der Schriftkultur". Dass ein Verfall stattfindet, stelle ich nicht ausser Zweifel. Wenn man beispielsweise Briefe liest, die in der Generation unserer Eltern geschrieben wurden, findet man dort fast durchweg eine relativ fehlerfreie und gewaehlte, um genaue Beschreibung bemuehte Ausdrucksweise. Doch erstens wird auch heute noch durchaus oft so geschrieben, und zweitens hat der Verfall nicht erst in den letzten Jahren eingesetzt. Als ich so um die 20 war (also vor etwas mehr als 20 Jahren *g*), hatte ich diverse Brieffreundschaften. Und was ich da zu lesen bekam, war auch manchmal wie hier im Forum: ohne Punkt und Komma, und mit vielen vom Lesefluss ablenkenden Rechtschreibfehlern gespickt. Man hatte einfach den Eindruck, dass dem Schreibenden nicht bewusst war, dass er gerade nicht sprach, sondern schrieb, und dass er die geschriebene Sprache einfach nicht richtig im Griff hatte.
Die Ursachen fuer den Verfall sind vermutlich vielfaeltig. Einerseits die gern beklagte Abloesung der Sprachkultur durch die visuelle Kultur. Andererseits aber auch die zunehmende Bequemlichkeit der Menschen. Schreiben wie man redet, also wie es aus dem Schnabel kommt, ist halt fuer die meisten Leute einfacher, als sich ueber einen ordentlich formulierten Satz Gedanken zu machen. Und fast alles in unserer modernen Welt wird ueber Symbole oder Verfahrensweisen mit mechanischer Minimalkommunikation abgewickelt. Fahrkartenautomaten, Orientierung in der U-Bahn, im Strassenverkehr, Geldautomaten, Handydisplays, Software usw. - das ist die "Sphaere", in der wir mittlerweile die meiste denkende Zeit verbringen. In dieser Sphaere gibt es einfach keine "elaborierte Sprache". Stattdessen lernt der Mensch aus dieser Sphaere, dass Kommunikation und Verstaendigung extrem reduzierbar sind, und entwickelt daraus unbewusst ein Ideal, das ihn von der Umstaendlichkeit und Zeitaufwaendigkeit der Sprache immer weiter wegfuehrt. Verstaerkt wird dieses neue Ideal auch dadurch, dass es dem Urwunsch entgegen kommt, dass einem jeder Wunsch von den Lippen abgelesen werden moege (man ihn also nicht erst formulieren muss).
Ein Medium wie das Forum hier, das einzig aus Buchstaben besteht, ist natuerlich wie ein Kontrapunkt in so einer Welt. Hier gilt eher das Gegenteil: wer versucht, mit seelenloser Minimalkommunikation oder mit maximaler Bequemlichkeit beim aussprechenden Denken durchzukommen, wird abserviert. Stattdessen wird sprachliche Genauigkeit, Vollstaendigkeit und Persoenlichkeit, also das, was etwas unbequem zu bewerkstelligen ist, belohnt. Denn im rein schriftlichen Medium gilt die Kunst des Schreibens nun mal mehr als das besonders schnelle Drueckenkoennen von Knoepfchen.
Was vielleicht noch relativ neu ist, ist die Ungeniertheit, mit der einige Leute sich in so einen oeffentlichen, rein schriftlichen Raum trauen, obwohl sie kaum schreiben koennen. Vermutlich liegt es daran, dass man hier etwas Begehrtes bekommen kann, naemlich Hilfe. Die Leserbrief-Redaktion der Frankfurter Allgemeinen hat glaube ich seltener mit diesen Problemen zu tun. Trotzdem - ich glaube, ich wuerde mich nie trauen, in so einem Forum zu posten, wenn ich wuesste, dass ich mich kaum verstaendlich ausdruecken kann. Die Ungeniertheit (Steigerung: Dreistigkeit), mit der das jedoch oft geschieht, ist fuer mich eigentlich das Erstaunlichste, vielleicht auch Bedenklichste an der Sache. Ich glaube nicht, dass man diese Ungeniertheit allein mit "jugendlicher Gedankenlosigkeit" erklaeren kann. Seit ueber dreissig Jahren werden Kinder so erzogen, dass sie vor allem lernen, selbstbewusst zu sein, und nicht so sehr, auf die Beduerfnisse anderer zu lauschen. Seit Jahrzehnten gilt der selbstbewusste Mensch als ein gesunder Mensch, als das Ideal. Dass Selbstbewusstsein ein sehr schmaler Grat ist und ganz leicht in gesellschaftlich negative Verhaltensweisen umkippen kann, wird dabei geflissentlich verdraengt. Und so haben wir heute eben kein Duckmaeuserproblem mehr wie zu Zeiten von Heinrich Manns "Untertan", sondern wir haben laengst ein Problem mit all den vielen "Jetzt-komm-ich"-Menschen. Allerdings wird darueber noch nicht offen diskutiert, weil es - und damit waeren wir wieder bei der political correctness - letzterer derzeit noch widerspricht.
viele Gruesse
Stefan Muenz