Jutta Gilles: Horizonterweiterung durch E-Mailkontakte

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Hallo Forum!

Zwei Menschen, die sich innerhalb eines persönlichen Kontaktes, wie auch
immer er zustandegekommen sein mag, e-mails schreiben, sich jedoch noch
nicht persönlich kennengelernt haben, entwickeln in der Regel, Sympathie
natürlich vorausgesetzt, in relativ kurzer Zeit die Bereitschaft, sich
näher zu kommen und wirklich Vertrauliches preiszugeben und auszutauschen.

Die innere Situation während des Schreibens bietet einen ganz "eigenen
Raum" für  eine geistig-gefühlige Bewegung und Steuerung. Man ist mit sich
selbst allein und hat vor dem inneren "geistigen Auge" die Vorstellung
eines bestimmten Gegenübers. Durch das Schreiben und Ausformulieren
auf der Tastatur vor dem Monitor bleibt man zugleich viel eher bei der
Sache, da das  Schreiben eine Art "offiziellen Charakter" durch das
technische
"Instrumentarium" (einschließlich der Formulare) erhält.

Diese Art und Weise von schriftlicher Kommunikation ist mit konventionellen
Briefkontakten nicht vergleichbar, schon allein wegen der Geschwindigkeit,
mit der ge-e-mailt werden kann. Die aktuelle Lebenssituation, Stimmungen
und aktuelle Ereignisse kommen viel mehr zum Tragen, ja, werden zum
wesentlichen Bestandteil des Kontaktes.Das Telefonieren wäre hier
vielleicht noch am ehesten ein Vergleich. Doch es handelt
sich beim Telefonieren um direkte Kommunikation zwischen "Sender" und
"Empfänger". Zumindest Sprech-und Hörsinn sind beteiligt und erhalten eine
ganze Menge Informationen über die persönliche Stimme, Stimmung und
Atmosphäre. Bei der e-mail-Kommunikation sind die Sinne, was den Empfänger
angeht, nicht einbezogen. Die Sinneswahrnehmung liegt in Bezug auf das
Gegenüber sozusagen "brach".

Dennoch entsteht in relativ kurzer Zeit innerhalb des e-mail-Austausches
eine Situation von gegenseitiger Nähe und Vertrautheit, man kann den
geistig-gefühligen "Grund-Code" des anderen zunehmend erahnen, erhält ein
Wissen um die "Identität" des anderen in Hinsicht auf "Geist" und
"Seele/Bewußtsein".

Dieses Wissen um das jeweilige Gegenüber  erlangt man jedoch im Vorhinein,
es wird vorweggegeben eben "nur" auf  der geistig-gefühligen Ebene.

Die Sinneszellen der einzelnen Sinnesorgane jedoch haben diese Nähe nicht
wirklich erlebt, schon gar nicht im Zusammenspiel des Ganzen.
Es bleibt eine wesentliche Lücke, die nicht ausgefüllt wird. Hier erwacht
zunehmend die Bereitschaft, diese Lücke füllen zu wollen und sich
persönlich kennenzulernen,- sich "personenhaft" gegenüberzustehen.
Wie mag er / sie wohl "in echt" sein?

Kommt es dann zu einer persönlichen Begegnung, taucht ein Phänomen auf:
es wird zunächst wieder auf Distanz "geschaltet", obwohl  Nähe und
Vertrautheit bereits wissentlich vorhanden waren und sind.

Die Wahrnehmungslücke der Sinne will offenbar erst einmal gefüllt
werden. Dies braucht Raum und Zeit. Man erlebt dies wie eine "innere
Schranke": Halt!/Stop! Sie zu übergehen würde bedeuten, sich als
Sinnesorgan  nicht ernstzunehmen. Die Sinne sind angewiesen auf
diejenigen Informationen, die das bereits vorhandene geistig-gefühlige
Wissen um den anderen mit ihrer Wahrnehmung in Einklang  bringen,
einen Ausgleich  schaffen.
Erst wenn die Asymetrie innerhalb des Wissens- und Informationsstandes
in eine Symetrie gewandelt wurde, steht wirklicher persönlicher Nähe nichts
mehr im Wege und "das Eis ist gebrochen".

Ich möchte mich der Meinung von Stefan Münz anschließen, daß durch die
virtuellen Medien Beziehungen entstehen können, die wahrscheinlich unter
"normalen Umständen" nicht zustandegekommen wären:

(Zitat Stefan Münz im krit-apfel-Interview)

"Es hat immer Spaß gemacht, und ich kann nur sagen, daß ich von Leuten,
die ich im Netz schätzen gelernt habe, von Angesicht zu Angesicht noch nie
enttäuscht worden bin, auch wenn die Leute sehr unterschiedlich sind und
ich auf "normalem Wege" möglicherweise kaum Zugang zu ihnen gefunden hätte,
eben weil die üblichen Mechanismen, vor allem der "first view", so
schrecklich  viel verhindern, was eigentlich möglich wäre."

Es ist hier also "mehr möglich" geworden, was die Anbahnung von
inhaltsvollen Kontakten angeht:

Man gerät nicht mehr so schnell in die Gefahr, der Sinneswahrnehmung und
damit gekoppelt dem eigenen Wertesystem und dessen (Vor-)Urteilen anheim zu
fallen. Der Blick ist weniger auf Äußerlichkeiten, gerade auch in Bezug auf
momentane Stimmungen und Erscheinungsbilder, fixiert, sondern  vielmehr
auf "die innere Substanz", die ein Mensch in sich trägt, auf das, was "in
ihm ist".
  
(Voraussetzung ist dabei immer, daß sich jemand nicht böswillig verstellt!
Auf dieses Phänomen innerhalb der digitalen Medien möchte ich hier nicht
näher eingehen.
Ich möchte allerdings  behaupten, daß es schwerlich möglich ist, diese
"Tarnung" über einen langen Zeitraum intellektuell und emotional konsequent
durchzuhalten.)

Insgesamt bringt diese Art der Kommunikation für mich eine neue Qualität
der Kommunikation mit sich, die nicht zu unterschätzen ist! Ich möchte den
Begriff der "Horizonterweiterung" in den Raum stellen.

Ich möchte behaupten,  e-mail-Kontakte können wesentlich dazu beitragen,
das
Bewußtsein der Menschen über ihre  (Werte-)Systeme und Dogmen
(=ethnologisch: individual enculturation)  hinauszutragen in neue
Wahrheiten und eine "offenere Welt", letztlich in eine "neue  Stufe der
Vernetzung" des (menschlichen) "Universums."

Grüße,
Jutta Gilles